Abstract

ZusammenfassungWelcher Status kommt der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik in aktuellen Lehr- und Forschungszusammenhängen der germanistischen Mediävistik zu, die trotz methodischer Innovationen und konzeptueller Pluralisierung immer weniger zu theoretischen Grundsatzdebatten aufgelegt scheint? Und was macht es gegenwärtig so schwierig, den Status von Lektüreverfahren explizit zu bestimmen? Der Essay entwickelt die These, dass Hermeneutik derzeit weniger als Theorieentscheidung zur Debatte steht, mit der konzeptueller Klärungsbedarf oder operative Leistungsfähigkeit der Geisteswissenschaften verhandelt würden, sondern öfter und alltäglicher noch in einem stilistischen Verhältnis gepflegt wird: als selbstverständlicher Lektüremodus diesseits von literaturtheoretischen Begründungs- und Legitimationsgefechten. Ausgangspunkt bildet die Vermutung, dass nicht generelle Theoriemüdigkeit, sondern spezieller noch die Abkehr von Epistemologien der Provokation solche Selbstverständlichkeit in neuer Weise attraktiv machen. Auch mediävistische Lektüren erweisen sich dabei als spannungsvolle Praxis, die über das Herstellen, Lesen und Interpretieren mittelalterlicher Texte weit hinausgeht. Der Essay umreißt vier Perspektiven, in denen hermeneutischer Stil weitaus weniger selbstverständlich erscheint: als unaufgeregte Beschreibungspraxis jenseits von Forschungslogiken der Irritation; als Kontinuitätspraxis angesichts anti-disziplinärer Tektonik; als Explikationspraxis angesichts zunehmender Latenzwahrnehmungen digitaler Gesellschaft; und als Praxis der Gegenstandsbindung angesichts von methodologischer Heterogenisierung. Wenn die hermeneutische Lektüre gegenwärtig als selbstverständlicher Modus erscheint, gründet dies nicht bloß in der Unhintergehbarkeit von Verstehensprozessen, sondern reagiert ebenso auf den gravierenden Wandel dieser Perspektiven.

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