Reviewed by: Hermann Broch and Mass Hysteria. Theory and Representation in the Age of Extremes by Brett E. Sterling Paul Michael Lützeler Brett E. Sterling, Hermann Broch and Mass Hysteria. Theory and Representation in the Age of Extremes. Rochester, NY: Camden House, 2022. 256 S. Das ist eine der besten und klarsten Untersuchungen, die in den letzten Jahren über Hermann Brochs Werk erschienen sind. Brett Sterling beginnt sein Buch zum Thema Massenwahn mit einem Hinweis auf Hannah Arendt. Nach ihr bestand Brochs intellektuelle Lebensleistung darin, beim "Dichten" die Forderung nach "Erkennen" in den Vordergrund zu rücken und dabei das "Handeln," die Praxis, nicht aus den Augen zu verlieren. Diese These wird durch Sterlings Studie erneut bestätigt. Es ist die erste Monografie, die sich der Darstellung bzw. Analyse der modernen Masse sowohl im erzählerischen wie essayistischen Werk Brochs widmet. [End Page 120] Am Anfang des Buches erwähnt Sterling grundlegende massenpsychologische Studien aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die Broch kannte. Von Gustave Le Bon hat Broch etwas über die Beziehung von Masse und Führer gelernt, jedoch dessen Konstrukt einer "Massenseele" abgelehnt. Wie Sigmund Freud wählte er stattdessen den individualpsychologischen Ansatz. Theodor Geiger betonte die destruktive Seite beim Aufstand der Massen, die er auf ökonomische Verelendung zurückführte. Bei Broch spielten wirtschaftliche Präkariatsverhältnisse zur Erklärung von Gewaltexzessen ebenfalls eine Rolle, doch rückte er eine fundamentale kulturelle Verunsicherung als Ergebnis von Wertzerfall und Religionskrise in den Vordergrund. Anders als Geiger blieb Broch skeptisch gegenüber der revolutionären Leistung der Masse. Ortegas anti–intellektueller und gewaltbereiter "Massenmensch," der repräsentativ ist für die rechtsradikaldiktatorischen Regime in Europa, ist auch in Brochs Schriften der Hauptgegner. Sterling erwähnt ferner "Masse und Macht" von Elias Canetti, doch blieb diese anthropologisch beschreibende Studie Broch unbekannt, da sie erst nach seinem Tod erschien. Zwischen Brochs und Canettis Ansatz gibt es kaum Überschneidungen. Im November 1918 musste in Wien die Monarchie der Demokratie weichen. Sterling zeigt, wie Broch in "Die Straße," einem offenen Brief an Franz Blei, seine kritische Grundposition gegenüber den Massenaufläufen an der Ringstraße zu Papier brachte. Er erinnerte an die chauvinistsichen Massenszenen zu Beginn des Weltkriegs, die ihm Ausdruck einer "billigen Ekstase" waren. Die sei auch jetzt im Spiel und könne nicht als Ausdruck einer Wende gewertet werden, die auf eine neue politische Ethik abziele. Broch hatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bei Vertretern des Wiener Kreises Philosophie studiert, u.a. bei Moritz Schlick und Rudolf Carnap. Sie waren der Meinung, dass vom neo-positivistischen Standpunkt aus Bereiche wie Ethik oder Werttheorie nicht mehr in ihren Seminaren behandelt werden könnten. Dafür war offenbar die Literatur zuständig. Da Broch Fragen der Ethik in den Bereichen zwischenmenschlicher Beziehungen, des sozialen Lebens und der Politik umtrieben, war es nur logisch, dass er seinen ohnehin gegebenen dichterischen Neigungen nachgab. Sterling schiebt eine erhellende Analyse von Brochs Konzept des "Erweiterten Naturalismus" ein. Es ist eine Romanästhetik, die Broch in der Auseinandersetzung mit Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahren" und dem "Ulysses" von James Joyce entwickelte, eine Poetik, die durch ein Simultaneitätsverfahren Rationales [End Page 121] und Irrationales, Sinnliches und Übersinnliches, Wissenschaftliches und Mystisches zur Sprache zu bringen versucht. Danach folgen Analysen von Massenszenen in Brochs Werken: etwa im "Esch"-Teil der "Schlafwandler," wo es um Streiks und Proteste geht; in dem Industriedrama "Die Entsühnung," wo in der militanten Konfrontation zwischen entlassenen Arbeitern und Unternehmervertretern Menschen ums Leben kommen; im Roman "Die Unbekannte Größe," wo ein Fußballspiel mit ekstatischen Zuschauern geschildert wird; vor allem aber im "Tod des Vergil," wo das "Massentier," sich "selbstanbetend in der Person des Einen" (KW4, 21), des Cäsar Augustus, zujubelt. Ein Ergebnis des Exils in Amerika ist Brochs "Massenwahntheorie," die den Untertitel "Beiträge zu einer Psychologie der Politik" trägt. Sterling lässt sich in seiner gründlichen Untersuchung auf die Entdeckungen Brochs ein, zu denen auch der erkenntnistheoretische Begriff des "Dämmerzustandes" gehört. "Irrationalbereicherung," "Ekstase" und "Heilsbringer" sind Termini, die eingeführt werden, um positive Gemeinschaftserlebnisse abgrenzen zu können von wahnartigen "Superbefriedigungen," die mit Begriffen wie "Rationalverarmung," "Pani" und "Demagogie" charakterisiert werden. Brochs Studie...
Read full abstract